"Rede des munaVeRo-Vorsitzenden zum Holocaustgedenktag,
am 27. Januar 2005, 60 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz."
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Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Frau Schweikart-Paul!

Ich danke ihnen für ihre Worte und die Bereitschaft, diesen besonderen Tag zu würdigen. Ihrer Begrüßung möchte ich mich für alle Anwesenden anschließen, ohne nochmals jemanden persönlich anzusprechen.
Für mich ist unabhängig von Rang und Namen das Mitwirken jedes einzelnen Bürgers (und jeder Bürgerin) daran wichtig, die Erinnerung wach zu halten - eine Erinnerung an unfassbare Verbrechen gegen jede Menschlichkeit, die sich mit dem Namen Auschwitz verbindet.

Das Bemühen darum dürfen wir nicht allein Persönlichkeiten überlassen, die eine Verpflichtung dazu nur "von Amts wegen" haben sollten, sondern müssen uns selbst darum kümmern und deshalb danke ich ihnen allen unterschiedslos für die Teilnahme an der heutigen Gedenkveranstaltung.
Nur wenn es uns gelingt, Ursachen und Mechanismen der geschichtlichen Entwicklung von ersten Anfängen bis zur Ausbreitung nationalsozialistischen Gedankenguts in den Köpfen der Menschen begreiflich zu machen, wenn wir das Bewusstsein und den Blick für die entgegen allen Beschwichtigungen latent vorhandenen Gefahren auch den jungen Menschen, als Fähigkeit und Verpflichtung weitervermitteln, haben wir aus den Unterlassungen und Verfehlungen der Vergangenheit wirklich gelernt und eine berechtigte Chance, ähnliches für die Zukunft zu verhindern.

Sicher leben wir - anders als 1933 - seit Jahrzehnten in einer gestandenen Rechtsstaatlichen Demokratie, aber steigende Arbeitslosigkeit, unsichere Renten und schwindende soziale Absicherung machen die Menschen auch in den alten Bundesländern ängstlich, unsicher und unzufrieden mit den demokratischen Parteien, die offenbar die wirtschaftlichen Probleme nicht schnell genug in den Griff bekommen.
Dadurch werden sie empfänglicher für den Ruf nach einer starken Hand und gegenüber der Einflüsterung unverantwortlich einfacher Erklärungen und Schuldzuweisungen durch politische Rattenfänger.

Sind denn nicht wirklich die Gastarbeiter, die Türken, die Asylbewerber an allem Schuld wie da behauptet wird, brauchen wir schon wieder eine Nationale Befreiung?

Wenn dagegen keine ausreichende sachliche Aufklärung und Auseinandersetzung mit entsprechendem Gedankengut erfolgt, praktisch als Schutzimpfung oder Immunisierung gegen solche Parolen, wird bald wieder die Demokratie mit dem Bade ausgeschüttet und gewaltsame Übergriffe gegen die vorgeblich Schuldigen an der Misere hat es in den neuen Bundesländern schon genug gegeben und sind auch bei den alten nicht auszuschließen.

Dabei sind wir in unserer globalen Welt zur Lösung der letztlich alle betreffenden Ernährungs-, Klima- und Umweltprobleme mehr denn je aufeinander angewiesen und brauchen die friedliche partnerschaftliche Zusammenarbeit aller Nationen und Kulturen.

Bestimmt jedenfalls brauchen wir keine neue Welle von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit.
Deshalb ist auch für munaVeRo, die wir eigentlich nur eine gemeinsame Gegenwart und Zukunft in Toleranz und Partnerschaft gestalten wollen und denen daher die Vergangenheit egal sein könnte, das Erinnern und damit auch der Holocaust-Gedenktag ein wichtiges Anliegen.
Ohne Blick zurück, darauf, aus welchen kleinen Anfängen es schleichend begonnen hat und dass es - weil man verspätet oder gar nicht darauf reagierte - auf einmal zu spät war, ohne Gefahr für die eigene Sicherheit, ja das eigene Leben einzuschreiten - ohne Erinnern daran lassen sich Anzeichen neuer Gefahren nicht rechtzeitig erkennen und es könnte sich ähnliches wiederholen.

Dies ist letztlich der Grund, warum wir uns als multinationaler Verein an allen bisher offiziell begangenen Holocaustgedenktagen in Rodgau beteiligt haben und auch jetzt dabei sind.

Es ist heute bereits die fünfte Holocaust-Gedenkveranstaltung, die wir in Rodgau abhalten und zudem ist es der 60. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz.
Ein besonderer Tag und eine lange Zeit, wobei mich besonders nachdenklich macht, dass ich ebenfalls in diesem Jahr 60 Jahre alt werde.
Ich bin aber bereits nach Kriegsende geboren und kann daher nicht über eigene Erfahrungen aus der NS-Zeit berichten.
Wer diese bewusst erlebt hat und seine Erfahrungen weitergeben kann, ist also schon etwa 70 Jahre alt oder älter. Damit wird erkennbar, dass die direkten Zeitzeugen bald ausgestorben sein werden, ein fast unersetzbarer Verlust, wenn es darum geht, gerade jungen Menschen ein glaubhaftes und authentisches Bild dieser Zeit zu vermitteln.

Lassen sie mich kurz auf die vergangenen Veranstaltungen zurückblicken.

Im ersten Jahr (2001) fanden morgens eine Diskussion und Zeitzeugengespräche mit älteren Rodgauer Bürgern unter Beteiligung der Pfarrer Nett und Meissner statt und wir hatten abends die Gruppe ROM SOM mit Lyrik und Liedern der Sinti und Roma eingeladen.

2002 haben wir den Auftritt einer Schülergruppe der Nell-Breuning Schule organisiert, die eine Woche in Auschwitz waren und ihre Eindrücke als Präsentation von Bildern, Collagen, Liedern und Gedichten verarbeitet und aufbereitet hatten.
Dies war wohl die bisher intensivste Veranstaltung in der Reihe.
Um in der Einführung darauf in angemessener Weise eingehen zu können, habe ich mich selbst mehr als bisher mit Auschwitz beschäftigt und die unvorstellbar schrecklichen Ereignisse wohl erstmals in voller Tragweite gedanklich an mich herangelassen.
Das war plötzlich wie ein Dammbruch, ich war völlig fassungslos und nicht mehr in der Lage eine nüchterne Distanz zu den unvorstellbaren Zahlen zu wahren.
Zudem hatten sie im Vergleich zu den Opfern des 11. September einen neuen Sinn bekommen - nicht Tausende, nein Millionen!
Den Schülern war anzumerken, dass sie bei ihrem Aufenthalt ebenfalls die Schutzbarriere gegenüber Auschwitz fallen lassen mussten, man merkte das aus ihren Gedichten und ihrem Vortrag, der auch das Publikum sehr betroffen machte.

Ich bin überzeugt, wer eine so intensive eigene Erfahrung gemacht hat, ist gegen rechtsradikale Argumente fortan immun.

2003 gab es eine Lesung des Rabbi von Bacherach (in dem Heinrich Heine den schon früh entstandenen Antisemitismus beschreibt und die Neigung Juden für alle Unglücke verantwortlich zu machen und sie deswegen zu verfolgen oder gar umzubringen) durch einen Rezitator aus Münster

Im letzten Jahr (2004) hatten wir eine Diskussion über Verstrickung in Schuld oder Versäumnisse der eigenen und der Eltern/ Großelterngeneration organisiert. Zur Einstimmung wurden Ausschnitte aus dem Film der Gute Vater gezeigt.

Heute nun der 60. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz.

Das Stadtparlament hatte beschlossen, den Holocaustgedenktag in Rodgau zu begehen und an diesem besonderen Datum ist es durchaus angemessen, dass die Parlamentarier einmal den Tag nicht begehen lassen, sondern sich unmittelbar an der Lesung beteiligen werden.
Die Stadt Rodgau ist wie wir Mitglied der Aktion Gesicht Zeigen und das werden sie heute ganz direkt tun, wofür ich ihnen danken möchte. Ein solches direktes Bekennen ist auch als Beispiel und Vorbild wichtig.
(Rudolf Ostermann)